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Mandala, Buddhismus heute, Nr. 6/1996
Dakinis in Jurten
Der Videodokumentar Wolf Kahlen reiste auf den Spuren des tiberischen Leonardo Thangtong Gyalpo durch die Mongolei. Ganz überraschend traf er auf die verloren geglaubte Tradition der Chöd-Meisterinnen.
Er hielt ihr Leben in den Jurten der Mongolei in Videodokumenten fest. Wolf Kahlen gibt uns einen aussergewöhnlichen Einblick in das Leben der alten Chödmas.
Unser Körper ist ein Leihkörper. Wir denken manchmal daran. Wer hat schon verinnerlicht, daß dieses prächtige Haus oder das armselige Gehäuse, je nachdem, wie wir uns fühlen, ein gewaltiges Kapital, aber auch eine gewaltige Belastung ist. Der"kostbare Menschenkörper" trübt einerseits unsere Wahrnehmung der Welt und unserer selbst durch seine Begrenztheit, er ist der Staub auf dem Spiegel. Doch er ermöglicht andererseits das, was man Befreiung nennt. Denn ein- und dasselbe Gefäß kann sich mit Licht füllen oder dunkel werden. Das geht ganz schnell, sozusagen mit Lichtgeschwindigkeit. Wer diesen Körper, und sei es auch "nur" symbolisch, zur Verfügung stellt, opfert, sich von ihm löst, um selbstlos zu sein, tut das - im übertragenen Sinn - mit einem lachenden und einem weinenden Auge. In der tantrischen Chöd-Praxis wird dies seit 900 Jahren geübt. Das lachende Auge sieht die Befreiung vor sich, das weinende denkt noch an den jahrelang geliebten, gepflegten Krper. So kann man es jedenfalls sehen.
Im Videodokument "Dakinis in Jurten habe ich es folgendermaßen definiert: Chöd ist ein tibetisch-mongolisches, buddhistisches Ritual mit dem Ziel des Praktizierenden, sein Ego aufzugeben, es "abzuschneiden". Dakinis sind Göttinnen, vergleichbar unseren Musen. Sie treten in friedfertiger oder zornvoller Person in Erscheinung. Manchmal werden sie als Menschen wiedergeboren. In der Praxis des Chöd wird der Praktizierende zur Dakini."
Die Chdma Tuanjav Ich will nicht versuchen, zu interpretieren, was andere tglich erfahren, die letzten Chd-Meisterinnen der Mongolei zum Beispiel. Ich hatte das Glck, auf der Suche nach Spuren Thangtong Gyalpo (Thang-stong rGyal-pos) im Sommer 1994 in der nordstlichen Mongolei einer der noch drei lebenden Chd-praktizierenden Nonnen aus der Zeit vor der fast totalen Vernichtung des tibetischen Buddhismus in den drei§iger Jahren zu begegnen. Und ausgerechnet sie praktiziert und initiiert in der bertragung ihrer Lehrer die Chd-Lehre Thangtong Gyalpos, der sie direkt von Machig Labdrn (Ma gcig lab sgron ma), der Mutter des Chd erhalten hat. So wird es in seiner Biographie, dem Namthar des Lochen Gyurme Dechen, ausfhrlich beschrieben. Eine aufregende Entdeckung: erstens die Chdma Tuanjav, oder Handma wie man in der Mongolei sagt, zu treffen. Zweitens zu erfahren, da§ sie sehr wohl eine ordinierte Nonne sei, deren Existenz in der Mongolei bis heute geschichtlich geleugnet wird. Und drittens, einen zerstrten Tempel Thangtong Gyalpos zu finden, dessen Geschichte zu erfahren und zu hren, da§ dort 40 Nonnen seit ihrem sechstem Lebensjahr praktiziert haben, darunter auch die Tuanjav. Erst hab ich meiner Mutter bei ihrer Praxis im Kloster geholfen, erzhlt uns Tuanjav. Natrlich wei§ ich nicht, ob das, was ich praktiziere, noch richtig ist, ich hab so viel vergessen, hab mich verstecken mssen, einen Teil meiner Roben und Gerte vergraben. Jetzt finde ich sie nicht mehr. Ich hab die Tiere gehütet und heimlich weitergemacht, als das Kloster 1937 aufgelöst wurde. Da war ich 22. Ich habe seitdem keinen Lehrer mehr. Mein Partner für die Praxis ist auch schon gestorben, ich mach aber trotzdem weiter", sagt die 85-Jährige. Und weiter erzählt sie: "Ich wollte eigentlich einen Geshe-Titel machen, aber mein Lehrer war so schrecklich streng, da hab ichs aufgegeben." (Filminterview am 29. Juli 1994 in der Jurte der Tuanjav Handma nahe dem ehemaligen Kloster Beldan Bereven im Hintii Aimag). Und dann nach vielen, vielen Gesprächen über den von ihr hochverehrten Thangtong Gyalpo sagt sie: "Heute lesen wir erst mal den kleinen Text". Das dauert vier Stunden. "Morgen den großen". Wir bleiben in der Jurte, ich will Chöd nicht filmisch enthüllen, ihre starke Persönlichkeit und das, was sie selbst "aufdecken" will, tun ihre Wirkung. Es versammeln sich Pilger. Die Jurte birst vor Intensitt. Wünsche und Nöte werden aufgeschrieben und auf einen großen Nagel gesteckt, geben der Opferung zusätzlich Sinn. Und darin, während nach Stunden die Pilger mehr und mehr ermden, steigert sich die Intensitt der Tuanjav, sie dreht das Damaru, bewegt die Ghanta, blst die Knochentrompete, stößt das "Phat" aus. Es wird dunkel in der Jurte. Am Ende des Jahres erfahre ich, daß kürzlich die Jurte der alleinlebenden Handma mit allen Gerten und Habseligkeiten abgebrannt ist. Sie lebt und hat schon eine neue Jurte, aber die wenigen erhaltenen, von mir gefilmten Dokumente sind nur noch Geschichte.
Die Chödma Dölgin Surenmaa Inzwischen bin ich zwei Monate unterwegs mit dem Lama Zagdag in den Filzjurten des Landes. Nordwestlich von Ulan Bataar in der ehemaligen Kolchose Partisan" treffen wir die zweite damals noch lebende, gro§e Chd-Meisterin Dlgin Suenmaa, eine Khandro. Sie wohnt mit Familie in einem Holzhaus und strahlt eine große Natürlichkeit, Wärme, Würde und Kraft aus, segnet, berät, gibt ein Lung - eine Übertragung - lacht, erzhlt ihr Leben, von ihren Lehrern wie Damsen Aroya und gibt ein Beispiel ihrer Praxis. Dabei singt sie mal mit kräftiger, vitaler, mal mit hoher, fiepsiger Stimme, sie trgt die Dakinikrone und blst die Knochentrompete aus tiefer Lunge und voller Ausdauer und freut sich, daß Namkhai Norbu Rinpoche sie kurz vor uns besuchte. "Ich hatte zwei Vter", erzählt sie uns. "Einer war mein natrlicher und der andere war der beste Schüler meines Vaters. Eines Tages sagte mein Vater, ein berühmter Chöd-Praktizierer, zu meiner einfachen, warmherzigen Mutter, sie solle den Jungen zum Mann nehmen, der Junge könne ihr auch besser bei der Praxis helfen, das tat er dann auch, und alle waren zufrieden. Mit neun Jahren hat mir Yetso Adia die Initiation der Vajrayogini gegeben und ich habe mich einen Monat zurückgezogen, um diese bertragung vom gro§en Nayon Hutorthe (aus dem letzten Jahrhundert, Anm. W.K.) mit alle meiner Kraft anzunehmen. Als ich dreizehn war, habe ich das erste Mal Chöd praktiziert. Wir lebten in vier Jurten, eine für Männer, drei für Frauen, 120 Tage lang. Wir legten vier Steinkreise zum Schutz der Zelte in die Mitte. Du durftest während der Zeit kein Trans- In der Jurte der Tuanjav Handma versammeln sich Pilger, um beim Chd-Ritual dabei zu sein.
portmittel benutzen, kein Pferd, kein Yak, nur zu Fuß durften wir gehen, zickzack wie eine Schlange, niemals geradeaus, 120 Flüsse mußten wir berqueren, einen Steinhaufen einen Obo, bilden, das Zelt mit drei Steinen in drei Richtungen sichern und noch viele andere Sachen. Aber was macht ihr denn so?" fragt sie und lacht. Dann erzhlt sie weiter: "Und wir haben erlebt, wie ein riesiger grauer Wolf, so gro§ wie ein Pferd, uns nachts bei der Praxis umrundete und vor dem Steinkreis, den wir gelegt hatten, strich er knurrend herum, konnte aber nicht rein. Mein Mann in der Sowjetzeit, ein gro§er Yogi, sagte eines Tages dasselbe zu mir wie zu meiner Mutter. Und das tat ich dann auch, hab ich jetzt genug praktiziert fr deine Kamera? Als wir sie verlassen wollen, braut sich am bis jetzt friedlichen hellen Abendhimmel in Windeseile eine gewaltige schwarze Gewitterwand zwischen Felswand und Haus zusammen und schttet nur fr eine Minute heftigen Hagel herunter. Vorbei, dann steht ein Regenbogen, auch ein Dakinizeichen vor uns wie ein Tor, als wir die Strasse zurück nach Ulan Bataar suchen. Der Regenbogen", sagen die Mongolen, "Ist die fnffarbige Seide, die du dir nicht nehmen kannst und ich auch nicht (Videodokument vom 22. Juli 1994). Anfang des Jahres 1995 hat die 84-Jhrige ihren Körper verlassen.
Der Chödmeister Hugen Hutukt Am Rande der Wste Gobi, in Dawadandin Hiid, lebt die 8. Wiedergeburt Hugen Hutukt, der Sonnendakini, Dagarvaa Lama. Der Lama ist männlicher Nachfolger in der ununterbrochenen Linie dieser Dakini, sagt er und die Leute, die ihn verehren. Wir treffen ihn wie durch einen der Zufälle, die es nicht gibt. Und im Hause einer reichen Familie, die ihn hochachtet, erzählt er von seiner Chd-Praxis. Jeder wei§, da§ der Lama die Arbeit der Frauen macht: er melkt, er arbeitet in der Molkerei, er wscht. Er schminkt sich, trägt goldene Ohrringe und rollt die Augen wie die zornvolle Dakini Dorje Phagmo. Und wie die gro§e Samding Dorje Phagmo, die "Diamantsau", die als Äbtissin ihre schutzbefohlenen Mönche in Säue verwandelte, als die Mongolen in Tibet einfielen und das Kloster in Schutt und Asche legten und die Mönche töten wollten, trägt er das Zeichen des Ebers. Und dazu das Zeichen der Sonne im Zentrum an der Stirnseite seiner Mtze. Sei junger Schler ist ebenfalls in Seide gekleidet. (Videodokumente vom 13. Juli 1994).
Die Naro-Dakini Bassuvd Die Naro-Dakini Bassuvd in Ulan Bataar aber lädt uns eines Tages ein. Wir haben sie oft besucht. Wir sollen filmen, wie sie ihre jungen Mädchen und Frauen ausbildet. Sie, die vielleicht 40-Jhrige, hat einen makellosen Naro-Dakiri-Tempel in einer Jurte eingerichtet und läßt einen hölzernen, eisenblechgedeckten großen Tempel gerade mit ihrem Lama einrichten. Sie ist eine gepflegte Frau. Die Thangton Gyalpo-Linie des Chd dagegen bevorzugt die asketische Lebensweise: ohne Angst vor verdorbener Nahrung und Krankheit und Tod zu sein, die Linie der tibetischen smyon-pa, der religiös Verrckten. Hier sehen wir deutlich eine mögliche Zukunft des Chöd: Die notwendigen Ritualgegenstände der Naro-Dakini sind alle von ausgesuchter Schönheit, teils historisch, wir sind in einer klassischen Schule des Chöd. Die Jurte inmitten häßlicher sozialistischer Plattenbauten und mit Ausblick auf einen Ulan Bataar verseuchenden Fabrikdistrikt faßt keine 15 Personen und atmet doch den Geist eines Tempelraums. (Videodokumente vom 23. Juni bis 1. Juli). So könnte es weitergehen in der Mongolei. Wer weiß. Die Probleme sind schon vorgezeichnet. Die neuen Heroen Bruce Lee und Schwarzenegger und die alten Vorbilder Jesus, Sophia Loren und Dschingis Khan lächeln oder grinsen von einer Kinodauerwerbewand in der Hauptstraße Ulan Bataars auf die vielen arbeitslosen, alkoholisierten Entwurzelten. Die Dakinis in den Jurten geben Hoffnung.
In der Jurte Zagalag
Wolf Kahlen, 1940 in Aachen geboren, lehrt seit 1982 als Professor fr Intermedire Kunst an der Architekturabteilung der Technischen Universitt Berlin. Er selbst gilt als Medienknstler aufgrund seiner vielfltigen Arbeiten in Architektur, Bildhauerei, Video, Film, Malerei, Zeichnung, Klang, Performance, Theater, Radio, TV, Texten, Photographie etc. Seine Werke sind in ca. 90 Ein-zelausstellungen in der ganzen Welt prsentiert worden und z. T. in zahlreichen ffentlichen Sammlungen ausgestellt. Wolf Kahlen wurde mit verschiedenen Kunstpreisen ausgezeichnet.
Dakini (skrt): Im Vajrayana-Buddhismus ist die Dakini die inspiratorische Kraft des Bewußtseins, die ikonographisch zumeist als rasende, nackte Frauengestalt dargestellt wird. Im Tibetischen wird Dakini mit Khandroma wiedergegeben: 'Kha' steht für Himmelsraum, die zum Bild gewordene Leerheit, 'dro' hat die Bedeutung des Gehens und Fortbewegens und 'ma' zeigt das weibliche Geschlecht an. Die Kandroma ist eine weibliche weibliche Gestalt, die sich auf der Ebene der hchsten Wirklichkeit bewegt; ihre Nacktheit symbolisiert die Erkenntnis unverhllter Wahrheit.
Chd (tib): wörtlich abschneiden, durchtrennen'. Die zentrale Praxis des Chöd besteht darin, die falsche Vorstellung eines 'Ich' abzuschneiden, indem man den eigenen Körper den Dämonen opfert. Dieses Ritual wurde vor allein auf Leichenplätzen durchgefhrt, den Wohnstätten der Dämonen, um auch noch das latente Anhaften an ein Ich zu durchtrennen. Die wichtigste Praktizierende des Chd war Machig Labdrn (1055-1145); durch sie wurde die Lehre des Chd in Tibet verbreitet.
Thangtong Gyalpo: tib. wrtlich Knig der Wildnis. Er ist ein berhmter Lehrer des tibetischen Buddhismus aus dem 15. Jahrhundert, von dem es hei§t, er sei 125 Jahre alt geworden. Eines seiner wichtigsten Werke ist ein Text zur Praxis der Chenresig-Meditation, die noch heute in der Karma-Kagy-Schule verwendet wird. Thangtong Gyalpo errichtete von Eisenketten gehaltene Brcken in ganz Tibet. Er gilt als der Begrnder des tibetischen Theaters. Er wird als Leonardo Tibets bezeichnet. Auch ist eine auf ihn zurckgehende Tradition der Chd-Lehre berliefert.
Damaru / Ghanta: Handtrommel, die zur Ausfhrung von Ritualen verwendet wird.
Jurte: mongolisches Zelt
© Thang-stong-Gyal-po Archiv Berlin
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