songs
mahasiddha
iron chain bridge
architecture
sculpture
poetry
medicine
painting
philosophy
theater
Bhutan
Mongolia
Spiti
in general

home

 

  wpe9.jpg (7351 Byte) wpe10.jpg (6749 Byte)

Tsa-Tsas, die Erdgedrückten

Tibetische und mongolische Miniaturreliefs in Ton

 

 

Tsa-Tsa, Tsha-tsha, satsa-tsha, tza-tza oder sa-tstza heißen daumennagelkleine bis handtellergroße Reliefs in Ton aus Tibet und der Mongolei und aus anderen vom tibetischen Buddhismus beeinflußten Ländern des Himalayaraumes wie Sikkim, Bhutan, Nepal oder Spiti. In über zweitausendfünfhundert Kilometer west-östlicher und ebenso viel nord-südlicher Ausdehnung sind sie im tibetischen Hochland von Staub- und Steinwüsten Westtibets bis zu den nassen Waldschluchten des östlichen Khoma und von der nordöstlichen Provinz Hintii Aimeag der Mongolei hinunter nach China und bis tief nach Indien verbreitet. Es gibt sie zu Hunderten oder Tausenden, ihre große Zahl ist ein Teil ihrer Funktion. Nur der buddhistische Gläubige erkennt in ihnen den hohen religiösen Wert. Die Tibetologen und Mongolisten sind zur Zeit noch mit anderem beschäftigt, zu vieles gibt es noch zu erforschen, das einmaliger, unikater, wertvoller erscheint.

 

Tsa-Tsas scheinen Massenartikel zu sein. Für den Tibeter jedoch sind sie mit Segen und Kraft auratisch aufgeladene ,erdgedrückte' Götter und Göttinen einer eigentlich gottlosen buddhistischen Philosophie. Sie stammen aus Bronzemodeln, die, empfinde ich als Künstler, oft genauso hervorragende Kunst sind wie die vollplastischen Bronzestatuen, von gleicher Intensität und gleichem Stil geprägt, da en miniature, manchmal wesentlich schwieriger herzustellen gewesen sind als ihre großen Schwestern. Nur letztere kann man einmaliger besitzen, und sie sind unvergänglicher. Das macht sie begehrter.

 

Tsa-Tsas sind im Prinzip auf Vergänglichkeit angelegt, aber mehr als bloße Symbole der Nichtdauer. Sie materialisieren eine der Maxime des Buddhismus: Denke stets daran, daß Dein kostbarer menschlicher Körper Dir nur auf Zeit gegeben ist und lebe im Augenblick in voller Wahrnehmung Deiner und anderer Lebenschancen zur Befreiung aus dem samsarischen Kreislauf der karmisch bedingten Wiedergeburten.

 

Die Vielzahl der Tsa-Tsa-Darstellungen als Relief umfaßt das gesamte Pantheon aller Erscheinungsformen der Alleinen Kraft, der ‘göttlichen' Urenergie, die aufgeteilt wird in Splitteraspekte, weil der normale Gläubige sie in ihrer Vieldimensioniertheit nicht ‘erfassen' kann.

 

Darum gibt es, von Meditierenden in den 2500 Jahren Buddhismus immer wieder neu visionär gesehene und dann mit Namen belegte Abbilder einzelner Teilaspekte des Göttlichen, die natürlich omnipotent sind, also gütig und zornig zugleich, männlich und weiblich zugleich usw.: zum Beispiel das Bild des ,unendliches Mitgefühl'-Ausübenden (Avalokitesvara/Chenrezig) mit den tausend Armen und Augen in den Handflächen, den zornvollen Schützer der Relegion, des Dharma, (Dharmapala: Mahakala/Gönpö), den Mutteraspekt in der (weißen und grünen) Tara/Grolma oder den Schlangenkönig (Nagaraja/sKlu-rGyal-po). Sie spiegeln die möglichen spektralen Energieformen letztlich in der Erkenntnis, daß alle zusammen genommen Alles und gleichzeitig Null sind, besser gesagt, die Leere, aus der alles wird und in die alles zurückkehrt. Also jede Materialisation oder Fleischwerdung ist nur eine Episode aller Spektralfarben und Farbübergänge des Lichts. Das muß man schon wissen, wenn man Kultobjekte wie Tsa-Tsas aus tibetischer Sicht sehen will.

 

Darstellungen von männlichen Gottheiten in Vereinigung mit ihren weiblichen tantrischen Partnerinnen sind in dieser Skala dann die höchsten Manifestationen der Aufhebung der vermeintlichen Gegensätze in dieser Welt, die uns nur ‘gegeben' sind, damit wir uns, vergleichend, überhaupt orientieren können. Die Umarmungen heben nicht nur Männlich und Weiblich auf, sind nicht nur Yin und Yang, sondern sind die ‘Nullsituation', der Moment der Leere an sich, die höchste Stufe der Erkenntnis, die Einsicht, in das, ‘was Himmel und Erde zusammenhält'.

 

Die Tsa-Tsas entstehen aus Ton oder Lehm (im Osten Tibets), mit mehr oder weniger Sand und pflanzlichen Faserstoffen (im Westen) vermischt, der in die butterfettigen Modeln (Tsa-Tsa Köphor/satstza'i-brkos-phor) gedrückt wird (für Tibeter ist Butter bekanntlich ein Vielzweckprodukt. Sie gehört ebenso in den Tee wie als Hautschutz mit Ruß vermischt auf den Körper und in die Haare oder brennt in den Opferlampen der Tempel). Sie lösen sich nach dem Antrocknen im richtigen Augenblick, bevor die Schrumpfung des Tons in der heißen Sommersonne den Abdruck in den Falten der Form zum Sprengen bringt, mit einem Schlag auf den Holz- oder Bronzestiel aus der Form.

 

Der Ton enthält im Idealfall die Verbrennungsasche eines gestorbenen verehrten Abtes, Mönches oder Rinpoche (Tulku). Das Herstellen selbst ist ein ritueller Akt, den nur ausgesuchte, in Initiationen vorbereitete Mönche ausüben dürfen. In die Rückseite werden manchmal noch gesegnete Reis- oder Getreidekörner eingedrückt. Besonders wertvolle Tsa-Tsas werden, nach meinen Recherchen spätestens seit dem 13. Jahrhundert, bemalt oder vergoldet. Meist ungebrannt, werden sie dann von den Klöstern den Pilgern, falls sie sie erfragen, mitgegeben. Hat der Fragende einen Lama konsultiert, erhält er vielleicht ein spezielles Tsa-Tsa seiner persönlichen Schutzgottheit (yidam), die er dann in sein stets am Körper getragenes Amulettkästchen (G'au) aus Silber oder Kupfer füllt. Oder er nimmt sie mit nach Hause und stellt sie auf Wegen ritueller Umwandlungen (sKor-lam), die er benutzt, in Felsnischen oder Baumlöchern ab, oder auf den Hausaltar oder in die Nähe seiner Zelte an gefährliche oder glückbringende Orte. Oder er opfert dem Kloster eine große Zahl, die dann ein Stufenmonument (Stupa/Chörten) füllen können.

 

Da sie meist nur luftgetrocknet sind, vergehen, zerfallen, zerbrechen sie, lösen sich irgendwann auf, das braucht lange im staubtrockenen Hochwüstenklima über mindestens 3000 Meter Höhe. So spiegeln sie die Auflösung aller Materie und eine zweite buddhistische Einstellung, Loslassen von aller Anhaftung an alles Materielle. Der für mich schönste Ausdruck dieses Bewußtseins der Vergänglichkeit, das von den Tibetern keineswegs negativ empfunden wird, sondern als Chance der Fortsetzung der meist nicht erreichten karmischen Schuldabarbeitung und einer möglichen Erleuchtung in diesem Leben, ist eine Praxis aus der Provinz Khams, die verloren zu sein scheint. Ich kenne nur ein einziges altes Photo und Berichte:

 

Ein Mönch sitzt am Fluß und ‘stempelt' Tsa-Tsas, eine ganze Platte voll verschiedener, statt in Ton, in das Wasser, erzeugt ‘Wassergedrückte' würde ich sagen. Noch fließender kann Werden und Vergehen kaum sein, ‘symbolisiert werden' sagen wir im Westen. Für den Tibeter ist das aber kein symbolischer Akt, sondern simultane Wirklichkeit. Im Augenblick der Geburt des Tsa-Tsa liegt auch sein Tod, so wie dem menschlichen Tod die Wiedergeburt folgt. Und der immer andere, niemals gleiche Fluß des Lebens, ein schönes Wort, oft gesagt, trägt die Bestandteile seiner selbst und der zeitweiligen Form weiter, bis sie sich wieder zusammenfügen zu einer neuen materiell erscheinenden Form.

 

Überzeugt von dieser Methode habe ich 1994 in einer Einzelausstellung in der Pekinger Galerie Zhao Yao neun Wörter des befreundeten exilchinesischen Schriftstellers Duo Duo in das Land, das er nicht mehr betreten darf, zurückgebracht. Habe sie dann in Holz geschnitten und, mit der Hohlform, der Stempelseite nach unten, auf das Wasser eines Flusses gelegt, sie dann treiben, gehen, vergehen lassen. Das Gewicht des Holzes drückt, solange sie schwimmen, nicht aufgenommen werden, das Wasser unsichtbar hoch in die Wortsilben im Holz, die Rillen der Form, höher als der Wasserspiegel steht, und formt auf Zeit einen Gedanken in das Wasserelement.

 

Eine besondere Form von Tsa-Tsas sind die kleinen vollplastischen Tonskulpturen (jin-sku'i-spar) von erleuchteten oder historischen Persönlichkeiten Tibets und der Mongolei wie Tibets großem Dichter und Yogi Milarepa aus dem 11. Jahrhundert oder ein Abdruck der Zahnreliquie des Reformators Tsonkhapa aus dem 14. Jahrhundert und die über handtellergroßen, kostbar in Metall gefaßten ‘Tragaltäre'. Die massiven Skulpturen enthalten im Inneren, auch aus praktischen Gründen, die den Trockenprozeß betreffen, einen Hohlraum, in den ein Holzstäbchen gesteckt wird. Es ‘repräsentiert' den Welten- oder Lebensbaum. Diese Achse der Welt, die jeder in sich selbst trägt, ist in Höhe der Stirn, des Mundes und der Kehle mit den Keimsilben Om, Ah, Hum beschriftet und umwickelt mit reliquiaren Stoffstreifen oder handgezeichneten oder holzgedruckten Bildern der ‘Götter- und Heiligenwelt'.

 

Tsa-Tsas sind Kunstwerke, die vergehen. Materialistisch, wie wir sind, erweckt das in uns auch den Schutzreflex, der ja nicht grundsätzlich falsch ist, aber doch einer anderen Weltsicht verpflichtet ist. Reisende sollten sie daher auf keinen Fall, nur, wenn sie ihnen von Lamas gegeben werden oder dort erworben werden, mitnehmen, denn sie erfüllen die Funktionen des Schutzes, der Segnung, der Verpflichtungen und des Dankes, laden Orte auf und bedeuten das Glück und die Gesundheit der Opfernden.

 

Die große Zahl der erstmalig ausgestellten Tsa-Tsas in der Ruine der Künste Berlin im Februar - April 1996 würdigte beides, den Erhalt des Wissens und die philosophisch-religiöse Bedeutung der Objekte. Sie zeigte Tsa-Tsas von der Seidenstraße aus noch undatierbarer Zeit bis zu den letzten genuinen aus der Zeit vor der Zerstörung Tibets oder der Selbstzerstörung des Buddhismus in der Mongolei der 30er Jahre.

 

Tsa-Tsas aus Tibet und der Mongolei verdienen Beachtung.

 

© Thang-stong-Gyal-po Archiv Berlin