von Wolf Kahlen
Wolf Kahlen ist Künstler, Professor für Plastisches
Gestalten am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Berlin und
Buddhist. In seiner "Ruine der Künste" - eine innen renovierte,
außen aber verfallende Villa in Berlin-Dahlem, die noch die Einschußnarben
des 2. Weltkrieges trägt - organisiert er Kunstausstellungen und manchmal auch
Veranstaltungen mit tibetischen Lamas.
Nach Jahren der Forschungen und Expeditionen, liegt es nun vor uns wie
ein offenes Buch, für den Westen wie für die Chinesen gleichermaßen neu und unerwartet
- das Leben und Werk des genialen Tibeters 'Thang-sTong rGyal-Po (Thangtong Gyalpo, wir
wollen ihn hier TG nennen), nach dem ich mit Hilfe vieler Freunde geforscht habe. Wie ein
Buch allerdings mit einigen auf ewig unüberprüfbaren Passagen, da die Seiten sozusagen
lädiert sind: Viele Orte des Wirkens TG's, sind zerstört; selbst deren Namen sind
ausradiert. Es sind gewaltige Klöster, Stupas, Brücken, Skulpturen und Gemälde, die TG
geschaffen hat und die schon im Laufe der vergangenen 500 Jahre teilweise, endgültig aber
in der Kulturrevolution verschwunden sind. Nicht, daß wir die Seiten des Buches nicht
richtig geöffnet hätten.
Apropos Buch, in Bhutan soll es eine kleine geheime Biographie geben,
die wir gerne noch gelesen hätten, die ich jedoch nicht mehr finden konnte. Die
Schriftzeichen sollen erst sichtbar werden, wenn man sie in Wasser taucht.
Unser Buch und einen Film über sein Leben und sein Werk haben wir noch
nicht veröffentlicht, beide sind aber in Vorbereitung. Die Fotos werden hier erstmalig
gezeigt und sind für Tibetologen in der ganzen Welt eine Neuheit.
Hier nun vorab ein paar kurze Geschichten aus der Kindheit TG's und
Fakten aus seinem hohen Alter.
Lochen Gyurme Dechen (16. Jahrhundert) war der Biograph TG's, auf den
wir am meisten bauen. Er beschreibt "Taten, die uns die Haare zu Berge stehen lassen,
wenn unsere Ohren sie hören und die den Samen zur Befreiung legen", wenn er vom
"verrückten Tsondru" berichtet, der ein Mahasiddha war und 1361 in siebter
Reinkamation, wie Guru Rinpoche selbst es prophezeit hatte, in seiner Nachfolge als Trowo
Palden erneut in die Welt eintrat. Er sollte "im zweiten Teil des 6.
Jahrhunderts" als ein Mann von unberechenbarem Verhalten" erscheinen, ließ
Padma Sambhava wissen.
Seine Wiedergeburten lassen sich benennen als König Trakpa Özer, als
ein unbekannter, vollordinierter Mönch, als der im Grenzgebiet von Bhutan und Tibet
geborene Lama Rongdön, als Dolpo, der Allwissende, und als Khyabdak Sangwa Dupa, bevor er
als Trowo Palden, Tsondru, oder später als "König der weiten Ebene",
Thang-sTong Gyal-Po und unter weiteren vier Namen erscheint.

Einer der wenigen Yogis, der Thang Tong Gyalpos Ritual
"Brechen des großen Steins" beherrscht
TG zeichnet heilige Figuren in den Sand, bevor er ein Jahr alt ist,
spielt mit den Vögeln wie der heilige Franziskus, fliegt mit zwei Jahren mit einem
weißen Geier spazieren, modelliert Skulpturen aus Teig und Lehm. Schon als Kind spricht
er über Figuren aus Gold, Jade, Türkis und Bergkristall, die er später herstellen wird.
Er läßt Schafe, die er hüten muß, meditieren, ißt den verschimmelten Teig der Tormas
(Opferkuchen), ohne krank zu werden. Einmal lehrt er, tagelang im Nest eines weißen
Adlers liegend, die Vögel den Dharma. Er gibt anderen Kindern des Dorfes Owa bei Lhatse
unbekannte Pilze und Früchte zu essen, ißt fünfzig vor einem Kloster erbettelte
Mahlzeiten auf einmal, verschwindet als kleiner Junge eines Tages für Monate und kehrt
heim mit Nahrung "aus einer anderen Welt". Er überquert den Tsangpo trockenen
Fußes, um Mönche mit Knoblauch vom jenseiten Ufer zu versorgen. Er will nicht schreiben
lernen; doch, als der Tutor ihn zwingt, schreibt er zum Beweis seiner Lernfähigkeit in
Lanca und Vartu, den symbolischen Schriften der Dakinis, ohne die Schriften jemals gesehen
zu haben und in fünf verschiedenen tibetischen Schriften.
Eines Tages, als eine tödliche Epidemie in seinem Heimatort ausbricht,
der auch seine Geschwister zum Opfer fallen, und als ein Astrologe empfiehlt, die Toten
ohne die vorgeschriebenen Riten ins Wasser zu werfen, erzürnt ihn das. Er zieht los, die
verantwortliche Naga-maru zu suchen, schert den Eseln alle Haare vom Körper, bindet
Schlangen um ihre Köpfe und Hälse und führt sie zurück ins Dorf. Wütend hören die
Nachbarn, daß er die Esel stellvertretend für sie trauern lassen will. Er aber findet
und überwindet die gigantische, schwarze, verantwortliche Schlange, schnürt ihr das Maul
mit

Riboche Stupa
einem Schuhriemen zu und fährt mit ihr in einem Boot hinaus aufs
Wasser; er beginnt in Ruhe zu meditieren, bis die Schlange vor Ungeduld aufgibt und
verspricht, den Ort zu verlassen und nicht länger die epidemische Krankheit zu
verursachen.
Diesem unglaublichen Kind ist auch all das zuzutrauen, was ihn später
als Mahasiddha berühmt macht. Mit 69 Jahren beginnt er, der sein Leben lang im gesamten
Himalaya für das Wohl der Menschen aktiv ist, Eisenkettenbrücken zu bauen. Er hat es
geschworen als er eines Tages, anonym im Bettelgewand im Lande umherreisend, von einem
Fährmann nicht über den Kiychu gebracht wird, weil er kein Geld besitzt, sondern
stattdessen von jenem zuerst mit dem Ruder bewußtlos geschlagen und dann in den Fluß
geworfen wird. Er scheint unterzugehen, steht jedoch zum großen Erstaunen der anderen
Passagiere am jenseitigen Ufer, als sie dort ankommen. Da macht er sich sofort auf, Eisen
zu suchen, kommt bis in die Tausende von Kilometern entfernten Gebiete von Kongpo und
Assam, entwickelt eine neue Schmiedetechnik, findet Schmiede in Bhutan, die ihm helfen und
beginnt, Brücken zu bauen. Es sollen 60-80 werden, wenn wir die symbolische Zahl 108
nicht als Tatsache annehmen.
Als Kennzeichen trägt TG daher auf Darstellungen stets ein paar
Eisenkettenglieder in seiner rechten Hand, die ihn modern wie einen heutigen
"Punker" aussehen lassen - kein schlechter Vergleich angesichts seines immer
ungewöhnlichen Auftretens. In der Linken trägt er als Zeichen seiner spirituellen und
medizinischen Kräfte, die Vase mit dem Elixier des langen Lebens. Dieses Zeichen deutet
auch auf TG's Ritual zur Erlangung eines langen Lebens hin.
Nach langen Suchen in Bhutan, Sikkim, Nordindien und Tibet haben wir
(d. h. ein kleines Team internationaler, dharmapraktizierender Tibetologen und Fachleute,
die ich interessieren konnte, unter ihnen der einzige TG-Forscher von Beruf, Cyrus R.
Stearns, dem wir auch die neuesten Übersetzungen verdanken) 1988 auf der "Ersten
internationalen Thangstong rGyal-Po-Expedition" wider Erwarten vier seiner Brücken
finden können. Nur eine war in Gänze erhalten - diese dafür aber eine Bilderbuchbrücke
der kühnsten Träume. Sie ist wie vor über 500 Jahren erhalten, weil es in einer
Prophezeihung heißt, sie sei, so lange sie stehe, Garant für das Bestehen des Buddhismus
in Tibet. Wunderbarerweise haben die Bewohner des Ortes Riboche im Westen Mitteltibets,
jenes Ortes, an dem ein großes, von TG erbautes Kloster stand, das bis zu seiner
Zerstörung von Tausenden von Mönchen bewohnt war und dem der Kaiser von China nach der
Erbauung Ladungen mit Geschenken zukommen ließ, vor einigen Jahrzehnten die Zerstörung
dieser Brücke verhindern können. Wir sehen sie heute in voller Pracht und sie
wird rituell begangen. Eine neue, stabilere Brücke nicht weit davon wird von den
Karawanen benutzt, doch kaum ein Vorbeigehender versäumt es, an der TG-Brücke zu opfern.
Yaklederriemen halten die Eisenketten, die nicht rosten, wie eine Wanne
zusammen. Wir wissen auch, warum das Eisen, insbesondere an den Schmiedenahtstellen, nicht
rostet: Eine metallurgische Untersuchung hat ergeben, daß durch eine einzigartige
Verwendung von Arsen eine rostfreie Verschweißung der Nähte erfolgt ist. Man kennt diese
Technik in der Weltgeschichte sonst nur bei römischen Damaszenerschwertern.
Auf den Tsangpo, der hier im Oberlauf noch kaum 100 Meter breit ist,
fällt morgens der segensreiche Schatten des großartigen Tashigomang Stupas, auch das ein
Bauwerk, wie die Druckerei von Derge in Kham, welches TG errichten ließ. Die Chinesen
haben hier bei der Zerstörung nur halbe Arbeit geleistet. Sie haben nur die Dächer der
vielen Kapellen eingestoßen, so daß die Fresken bis heute, zum Teil noch im Schutt
vergraben, erhalten sind. Sie sind unserer Ansicht nach von TG selbst. Stil und Farben der
Fresken, sowie die Tatsache, daß alle Darstellungen im ersten Stockwerk ausschließlich
Mandalas zeigen, wunderschön und erdfarben, sind meines Wissens einzigartig im
tibetischen Raum und weisen auf eine Entstehung im 15. Jahrhundert hin.
Als Künstler betrachte ich die Taten TG's natürlich mit qualitäts-
und innovationssuchenden Augen und kann feststellen, daß TG schon allein mit den drei
genannten Beispielen des Eisenkettenbrückenbaus, der Fresken und der Stupaarchitektur ein
Mahasiddha der Künste war, wie Leonardo da Vinci in unseren Breiten. Ich wrde ihn
mit Tsongkhapa als die wichtigste Figur der tibetischen Renaissance bezeichnen.
Noch aufregender wird es, wenn wir erfahren, daß er der Begründer des
tibetischen Theaters, ein großer Mediziner, der Begründer magischer Rituale wie des
"Brechens des großen Steins", der Komponist noch heute gesungener
Arbeitslieder, ein Dichter, Maskenentwerfer, Bildhauer und Philosoph war.
Aber das sind viele weitere Geschichten, die ihrer Erzählung harren.
Sie werden zu vernehmen sein, wenn Buch und Film über das Leben und Werk Thang-sTong
rGyal-Pos fertig sind.
TG-Chörtentempel im Paro-Tal/Bhutan. Zeichnung Wolf Kahlen 1985 (Alle
Fotos aus dem TG-Archiv Wolf Kahlen)